Die Eidgenössische Kommission für Lufthygiene hat die neuen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2021 und deren Bedeutung für die Schweizer Luftreinhalte-Verordnung bewertet. Sie kommt zum Schluss, dass der Stand des Wissens, der diesen Richtwerten zugrunde liegt, eine Anpassung der Luftreinhalteverordnung erfordert. Die derzeit gültigen Immissionsgrenzwerte für die Schadstoffe SO2, NO2, CO, O3, PM10 und PM2.5 sind mit dem vom Umweltschutzgesetz geforderten Gesundheitsschutz nicht mehr vereinbar.
Seit 1987 äussert sich die Weltgesundheitsorganisation WHO in den «Air Quality Guidelines» zur Frage, wie sauber die Aussenluft sein muss, um den Gesundheitsschutz zu garantieren. Alleiniger Bezugspunkt der Richtlinien ist der Kenntnisstand der Gesundheitswissenschaften. Die WHO-Richtwerte bieten den Regierungen eine wissenschaftliche Referenz im politischen Prozess der Festlegung nationaler Immissionsgrenzwerte. Im September 2021 wurden die neuen WHO-Richtlinien publiziert.
Auch niedrige Luftschadstoff-Belastung schadet der Gesundheit
Während das Wissen zu «Luft und Gesundheit» vor 40 Jahren in wenigen hundert Studien festgehalten wurde, waren es bei der Lancierung der neusten Auflage bereits weit über 30'000 Arbeiten. Die grösste Herausforderung für die von der WHO ernannte «Guideline Development Group» mit Wissenschaftler*innen aus allen Kontinenten war die wissenschaftlich basierte Herleitung der tiefsten Schadstoffkonzentrationen, für welche negative Folgen auf die Gesundheit belegbar sind. Die Ausgangslage hatte sich seit der dritten Fassung der Richtlinien in Jahr 2005 in zwei Punkten fundamental verändert:
- Die ersten WHO-Richtlinien von 1987 förderten in den westlichen Ländern eine Luftreinhaltepolitik, welche zur deutlichen Abnahme der Belastungen mit fast allen in der Tabelle gezeigten Schadstoffe führte.
- Parallel dazu haben multidisziplinäre und meist international kollaborierende Forschungsteams die Folgen der Luftverschmutzung kontinuierlich weiteruntersucht. Von zentraler Bedeutung wurden dabei Langzeitstudien (d.h. Kohortenstudien), welche repräsentative Stichproben von mehreren Hunderttausend Personen aller Altersgruppen über viele Jahre hinweg untersuchten. Während die Schweizer SAPALDIA-Studie vor 30 Jahren weltweit eine der wenigen Kohortenstudien zu diesen Fragestellungen war, verfügen heute die meisten forschungsorientierten Länder über Grosskohorten, die – oft gemeinsam mit SAPALDIA – diese Forschung vorantreiben. Da ein grosser Teil dieser Studienbevölkerungen – insbesondere in der Schweiz, Skandinavien und Kanada – an nunmehr wenig belasteten Adressen wohnen, konnte die Forschung der letzten 10 Jahre den Zusammenhang zwischen der Belastung vor der Haustür und den gesundheitlichen Schäden auch in Konzentrationsbereichen untersuchen, welche weit unterhalb der WHO-Richtwerte von 2005 liegen. Dabei zeigte sich unmissverständlich, dass es auch in diesen tiefen Konzentrationsbereichen keine «unschädlichen Schwellenwerte» gibt. Auch niedrige Belastungen Beschleunigen die Entwicklung von Gefäss-, Herz- und Lungenkrankheiten oder Diabetes und führen somit zu kürzerer Lebenserwartung.
Die neuen WHO-Richtwerte werden dieser neusten Evidenz im tiefen Konzentrationsbereich gerecht. Die methodisch einheitlich hergeleiteten Richtwerte entsprechen der tiefsten Konzentration, für welche gesundheitliche Folgen replizierbar belegt werden können.
Schweizer Luftqualität auf hohem Niveau
Gemäss dem Schweizer Umweltschutzgesetz muss die Luftreinhaltepolitik eine Luftqualität garantieren, welche keine gesundheitlichen Schäden verursacht. Dank des Umweltschutzgesetzes bleibt die wissenschaftsbasierte Festlegung der Grenzwerte in der Schweiz seit über 30 Jahren mehrheitsfähig. Alle von Partikularinteressen motivierten Versuche, am Gesundheitsschutz zu rütteln, blieben in der Schweiz – im Gegensatz zu Deutschland und der restlichen EU – erfolglos. Dies zeigt sich auch in der Entwicklung der Luftqualität: diese verbesserte sich zwar in ganz Europa seit Jahrzehnten – allerdings in unterschiedlichem Tempo.
So erreichte die Schweizer Luftreinhaltepolitik mittlerweile einen mehrjährigen Vorsprung auf die umliegenden Länder. Die Automobilindustrie dieser Länder bestimmte zu lange eine verfehlte Politik, welche Dieselmotoren förderte und ein Obligatorium für Partikelfilter bis 2009 zu verhindern wusste. Diese Politik war in der Schweiz nie mehrheitsfähig. Und hat sich ausbezahlt: als die Eidgenössische Kommission für Lufthygiene (EKL) 2021 ihre Arbeit zur Auseinandersetzung mit den neuen WHO-Richtlinien aufnahm, wurden in der Schweiz die Jahresmittelwerte fast aller Schadstoffe bereits flächendeckend eingehalten. Eigentlich bestand Grund zum Feiern.
Luftreinhalte-Verordnung soll angepasst werden
Eine kritische Analyse der Situation war trotzdem unumgänglich. Dieser hat sich die EKL gestellt. Im nun veröffentlichen Bericht kommt sie zum Schluss, dass die WHO-Richtwerte eine entsprechende Anpassung der Schweizer Luftreinhalte-Verordnung unumgänglich machen. Das Umweltschutzgesetz setzt dem Gesundheitsschutz höchste Priorität. Grenzwerte, die über den WHO-Richtlinien liegen, verletzen diese gesetzliche Vorgabe eindeutig. Dies sollte sich in neuen Immissionsgrenzwerten widerspiegeln. Der Vorschlag der EKL (siehe Tabelle) weicht nur geringfügig von den WHO-Richtwerten ab. Die Beibehaltung der Langzeit-Grenzwerte für Schwefeldioxid wird dem Schutz der Ökosysteme geschuldet. Diese werden im Umweltschutzgesetz der Gesundheit gleichgestellt, waren aber nicht Gegenstand der neuen WHO-Richtlinien. Die metrischen Abweichungen beim Ozon garantieren den selben Gesundheitsschutz.
Massnahmen in Mobilität, Landwirtschaft und Holzverbrennung notwendig
Die vorgeschlagene Änderung der Luftreinhalte-Verordnung bedeutet für die Schweizer Luftreinhaltepolitik, dass am seit Jahrzehnten eingeschlagenen Weg unbedingt festgehalten werden muss. Dem Vollzug beschlossener aber verzögerter Massnahmen wird man besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Ein verstärkt lokaler oder regionaler Fokus dürfte sich dabei aufdrängen, da der europaweite Wechsel der ganzen Fahrzeugflotten zu extrem schadstoffarmen Verbrennungsmotoren respektive zur Elektromobilität nicht genügen werden. Gezielte quellenorientierte lokale Massnahmen werden insbesondere in der Landwirtschaft oder bei der Holzverbrennung erforderlich bleiben.
Erfreulicherweise werden die vorgeschlagenen neuen Grenzwerte nicht nur für Schwefeldioxid und Kohlenmonoxid seit langem flächendeckend eingehalten; auch jene für PM10 werden nur noch an wenigen Mess-Stationen knapp überschritten. Im Bereich des Feinstaubes PM2.5 sowie der Stickoxide wird die Einhaltung der neuen Grenzwerte aber auch bei Fortschreibung der derzeitigen Trends noch einige Jahre auf sich warten lassen. Zum Russ macht die WHO Handlungsempfehlungen, die die Notwendigkeit, die Konzentrationen so tief wie möglich zu halten, betonen. Die EKL forderte bereits im Feinstaubbericht 2013 eine Reduktion auf 20% der damaligen Werte – ein Ziel das trotz abnehmenden Konzentrationen noch nicht an allen Standorten erreicht wird. Auch für die ultrafeinen Partikel formuliert die WHO keine Richtwerte, sondern Handlungsempfehlungen. Die Forderung diese so tief wie möglich zu halten, steht in Einklang mit den beobachteten Trends und den Forderungen der EKL.
Klima- und Luftreinhaltepolitik besser abgleichen
Die Einhaltung der unveränderten Grenzwerte des sekundär in der Atmosphäre gebildeten Ozons stellt die Schweiz wie auch ganz Europe vor grosse Herausforderungen, da in den letzten Jahrzehnten zwar die kurzzeitigen Spitzenwerte abnahmen, die Verteilung der Stundenmittelwerte aber trotz starker Abnahme der Vorläufersubstanzen unverändert hoch blieben. Die komplexe, nicht lineare atmosphärische Bildung von Ozon sowie der Klimawandel hin zu wärmeren und sonnigeren Früh- und Spätsommerphänomenen tragen zu den verbleibenden Herausforderungen beim «Sommersmog» bei.
Luftreinhaltepolitik muss somit auch in Zukunft auf der Agenda bleiben. Abgesehen von Ozon geht die EKL davon aus, dass auch die neu vorgeschlagenen Grenzwerte in der Schweiz in einigen Jahren eingehalten werden können. Dass die EU die Übernahme der WHO-Richtlinien nun ebenfalls erwägt, stützt diesen Optimismus. Besonders wirksam und effizient ist die Nutzung der Synergien zwischen Klima- und Luftreinhaltepolitik.
In jedem Fall sollten in der kommenden Vernehmlassung der vorgeschlagenen Anpassung der Verordnung die Grundlagen des Schweizer Umweltschutzgesetzes sowie des Gesundheitsschutzes nicht verhandelbar sein.