Wenn Rea Tschopp von ihrem Leben erzählt, tut sie das mit leiser, ruhiger Stimme – als hätte sie nichts Besonderes zu berichten. Dabei ist ihre Biografie alles andere als gewöhnlich: Die 47-jährige Schweizerin hat den grössten Teil ihres Leben im Ausland verbracht und als Tier- und Wildtierärztin auf drei verschiedenen Kontinenten gearbeitet – unter anderem für den Scheich in Dubai. Auf Umwegen kam sie schliesslich zur Forschung: Heute arbeitet sie für das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) in Äthiopien am Armauer- Hansen-Forschungsinstitut (AHRI). Dort leitet sie die Einheit ‹One Health› und untersucht auf den Menschen übertragbare Tierkrankheiten bei nomadischen Viehzüchtern.
Als sie das erste Mal für ihre Doktorarbeit nach Äthiopien fuhr, sollte sie eigentlich nur drei Monate bleiben. Mittlerweile ist sie seit 16 Jahren dort und lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in der Hauptstadt Addis Abeba: «Äthiopien ist mir zur Heimat geworden.» Sie ist fasziniert von der Vielfalt des Landes: Es gibt über 80 verschiedene ethnische Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen. Obwohl sie die Hauptsprache Amharisch spricht, braucht sie häufig einen Übersetzer, wenn sie für ihre Forschung in den verschiedenen Landesteilen unterwegs ist. Das macht die Arbeit schwierig, aber auch spannend. «Ich bin dankbar, dass ich immer wieder Neues entdecken darf.»
Kindheit in Afrika
Fremde Kulturen lernte sie bereits sehr früh kennen, denn ihr Vater arbeitete für die Schweizer Entwicklungshilfe in verschiedenen afrikanischen Ländern. Alle paar Jahre zogen die Eltern mit Rea und ihren zwei jüngeren Geschwistern weiter: Madagaskar, Kamerun, Niger, Kongo. Rea absolvierte ihre ganze Schulzeit an französischen Schulen. Mit sechs oder sieben Jahren hatte sie in Kamerun ein Erlebnis, das ihr weiteres Leben prägte. Eine Freundin ihrer Eltern, die als Krankenschwester in einer Mission arbeitete, nahm sie mit auf Krankenbesuche. Dabei kamen sie einmal in eine Hütte, in der gerade eine Frau ein Kind gebar. Rea erlebte die Geburt hautnah mit und durfte sogar die Nabelschnur durchschneiden. Das beeindruckte sie tief: «Von da an wusste ich, dass ich Ärztin werden würde.»
Was sie damals wie heute fasziniert, ist das Leben – «von allen Wesen, egal ob Mensch oder Tier». Lange wusste sie deshalb nicht, ob sie Human- oder Tiermedizin studieren sollte. Schliesslich entschied sie sich für ein Veterinärmedizin-Studium in der Schweiz. Dorthin war die Familie zurückgekehrt, nachdem Rea die Schule im Kongo abgeschlossen hatte. Doch weil ihr Abschluss in der Schweiz nicht anerkannt wurde, wiederholte sie zunächst das letzte Schuljahr an der Kantonsschule in Chur. «Das war eine schwierige Zeit für mich», sagt Rea. Sie hatte das Gefühl, aus einer ganz anderen Welt zu kommen als ihre Mitschüler, fand keinen Anschluss. Ihre Erleichterung war gross, als sie die Schweizer Matura in der Tasche hatte und sie zum Studium nach Bern gehen konnte.
Dort gefiel es ihr gut und sie lebte auf. Neben Tiermedizin besuchte sie auch viele Vorlesungen in Humanmedizin, später bildete sie sich in Notfall- und Tropenmedizin und in Geburtshilfe weiter. «Ich dachte, dass ich das in abgelegenen Gegenden sicher gut brauchen könnte.» Denn dass sie nicht auf Dauer in der Schweiz bleiben würde, war für sie klar. «Es war mir immer ein bisschen zu eng.» Zwar arbeitete sie nach dem Studium zunächst drei Jahre als Tierärztin im Jura. Doch dann zog es sie wieder in die Ferne.
Sie ging nach London, um eine Weiterbildung in Wildtiermedizin zu machen. In den nächsten Jahren folgten Stationen in verschiedenen Ländern. So betreute sie in Dubai den privaten Zoo und die 300 Jagdfalken des Scheichs. Anschliessend arbeitete sie in Nepal in verschiedenen Nationalparks und half zeitweise in einem Waisenhaus mit. Dort sah sie Kleinkinder, die an Tuberkulose starben, weil das Geld für Medikamente fehlte. «Das hat mich sehr betroffen gemacht.» Damals ahnte sie nicht, dass sie bald selbst über Tuberkulose forschen würde. Als die politische Lage in Nepal zu unsicher wurde, ging sie schliesslich nach Belize in Mittelamerika, wo sie in einem Rehabilitationszentrum für verletzte Pumas und Jaguare tätig war.
Der richtige Schritt
Dass sie 2005 für das Swiss TPH nach Äthiopien ging, war reiner Zufall. Sie war eigentlich in die Schweiz zurückgekommen, um wieder einmal ein paar Jahre zu bleiben. Auf der Suche nach Arbeit schickte sie eine Spontanbewerbung an das Swiss TPH. Dort hatte man zwar keine Stelle als Tierärztin für sie, bot ihr aber an, eine Doktorarbeit zu machen – mit Feldarbeit in Äthiopien, in Zusammenarbeit mit dem AHRI, an dem sie heute arbeitet. Rea war hin- und hergerissen: «Als praktizierende Medizinerin hatte ich nie an eine Karriere in der Forschung gedacht.» Doch dann sei ihr klar geworden, dass das eine das andere nicht ausschliesst. Und dass sie mit epidemiologischer Forschung vielleicht sogar mehr als mit ihrer bisherigen Tätigkeit dazu beitragen könnte, das Leben von Menschen und Tieren zu verbessern.
Sie sagte zu – und traf damit genau die richtige Entscheidung: «Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich meine drei Leidenschaften Human-, Veterinär- und Wildtiermedizin unter einen Hut bringen.» Denn ohne es geplant zu haben, hatten ihre verschiedenen Ausbildungen sie in die Welt des ‹One Health› geführt. Darunter versteht man die gesamtheitliche Betrachtung der Gesundheit von Menschen, Tieren und Umwelt, bei der Gesundheitsfachleute verschiedener Disziplinen eng zusammenarbeiten. «Gerade in Äthiopien ist dieser Ansatz sehr sinnvoll», sagt Rea.
Denn Tier- und Menschengesundheit sind dort untrennbar verknüpft. In abgelegenen Gegenden, in denen es kaum Gesundheitsversorgung gibt, ziehen nomadische Viehhalter mit ihren Herden umher. Sie leben eng mit Ziegen, Schafen, Kühen und Kamelen zusammen, trinken rohe Milch und stecken sich dadurch häufig mit Krankheiten an: Rindertuberkulose und Tuberkulose, Brucellose oder Rift Valley- Fieber. Aber auch von Wildtieren übertragene Krankheiten wie Tollwut sind in Äthiopien ein grosses Problem. «Wenn man Krankheiten bei den Tieren erkennt und unter Kontrolle bringt, kann man dadurch auch die Gesundheit der Menschen verbessern», sagt Rea.
Tiere vor Menschen
In ihrer Doktorarbeit untersuchte sie die Verbreitung der Rindertuberkulose. Dazu war sie mit einem Fahrer und einem Dolmetscher oft wochenlang im Süden Äthiopiens unterwegs, um Blutproben von Rindern zu sammeln. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, brachten die Nomaden meist noch ihre kranken Tiere, um sie von ihr behandeln zu lassen. «Die Existenz dieser Menschen hängt vollkommen von den Tieren ab», sagt Rea. Deshalb wird das Vieh immer zuerst versorgt – erst anschliessend brachten die Hirten ihre Frauen und Kinder zu ihr, damit sie sich ebenfalls um sie kümmerte. «Die Menschen haben meist mehr Vertrauen in Tierärzte als in Humanmediziner.»
Bei kleineren Wunden oder einfach behandelbaren Krankheiten kann Rea helfen. Für schwerwiegendere Erkrankungen müssten die Patienten in ein Gesundheitszentrum oder Spital, doch die liegen oft mehrere Tagesmärsche entfernt und werden selten aufgesucht. Unter der schlechten Gesundheitsversorgung in abgelegenen Gebieten leiden besonders Frauen: Nur etwa zehn Prozent bekommen medizinische Hilfe bei Geburten, entsprechend hoch ist die Müttersterblichkeit. Rea wurde vor einigen Jahren selbst einmal zu einer Frau gerufen – wiederum erst, nachdem sie die kranken Tiere versorgt hatte, – die nach einer Geburt starke Blutungen hatte. Doch es war bereits zu spät, Rea konnte nichts mehr tun und die Frau starb in ihren Armen. «Das war absolut traumatisch für mich.» Damals sei ihr klargeworden, dass sie mehr für Frauengesundheit tun will. Deshalb untersucht sie derzeit in einem Projekt das Vorkommen und die Verbreitungswege von Brucellose, einer bakteriellen Infektionskrankheit. Diese ist besonders für schwangere Frauen gefährlich, weil sie Fehlgeburten auslösen kann. In einem anderen Projekt verfolgt eine ihrer Studentinnen die Idee einer Kooperative: Dorfbewohner sammeln Geld, sodass Frauen, bei denen Schwangerschaftskomplikationen auftreten, in ein Spital gebracht werden können. Um das Gesundheitssystem allgemein zu unterstützen, läuft zurzeit eine Pilotstudie für ein integriertes Überwachungssystem. Dabei gehen Tierärzte und Public Health-Mitarbeiterinnen gemeinsam zu Nomadenstämmen, um Krankheitsausbrüche frühzeitig zu erkennen und Men-schen und Tiere schnell behandeln zu können.
Die Löwen des Kaisers
Neben ihrer eigentlichen Forschung hat Rea auch in Äthiopien weiter in der Wildtiermedizin gearbeitet. «Ich wollte das Praktizieren nicht ganz aufgeben.» Zu Beginn gab es in ganz Äthiopien ausser ihr keine ausgebildeten Wildtierärzte, weshalb die Regierung ihre Hilfe gern in Anspruch nahm. Sie behandelte verletzte Wildtiere, stattete Elefanten mit Sendern aus und trainierte Ranger in den Nationalparks. Aber auch für Wildtiere in Gefangenschaft ist sie im Einsatz: Sie kümmert sich um die Löwen im Präsidentenpalast – die Nachfolger der Löwen des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, die als Herrschaftssymbol gelten. Dabei gab es auch schon brenzlige Situationen: Einmal sollte ein grosses Löwenmännchen in ein neues Gehege umziehen, weshalb Rea es für den Transport betäubte. Doch die Helfer trödelten so lange herum, dass der Löwe bereits wieder aufwachte und seinen riesigen Kopf hob: «Ich bin zu Tode erschrocken.» Geistesgegenwärtig setzte sie dem Tier nochmals eine Betäubungsspritze, sodass die Sache glimpflich ausging.
In Äthiopien lernte Rea auch ihren Mann Mat kennen, einen australischen Zoologen, der vier Jahre lang mit Pavianen in der Wildnis lebte, um deren Verhalten zu erforschen. Ein gemeinsamer Bekannter wollte die beiden verkuppeln und versuchte Rea zu überzeugen, Mat einmal bei den Pavianen zu besuchen – doch sie wollte nicht. «Ich hatte kein Interesse an so einem komischen Typen, der mit Affen zusammenlebt», erzählt sie lachend. Nur durch einen Trick trafen sich die beiden doch noch: Der Bekannte behauptete einfach, ein Pavian sei krank und Rea müsse unbedingt hinfahren – was sie dann auch tat. Heute arbeitet Mat als Biologielehrer an der amerikanischen Schule in Addis Abeba, auf die auch die 9-jährige Tochter und der 8-jährige Sohn gehen. Das Paar hat die beiden als Babys aus einem äthiopischen Waisenheim adoptiert, in dem Rea damals mithalf. Seit Jahren verbringt die Familie die Sommerferien jeweils in der Schweiz, bei Reas Eltern im kleinen Ort Nufenen in den Bündner Bergen. «Wir geniessen die Zeit dort sehr», sagt Rea. Ruhe und Natur sind ein willkommener Ausgleich zur Millionenstadt Addis, gerade während der Corona-Pandemie, die Äthiopien hart getroffen hat. «Während des letzten Jahres haben wir alle das Haus kaum verlassen und ich war fast ununterbrochen im Homeoffice.» Zudem ist die Sicherheitslage 2021 durch den Ausbruch des Bürgerkriegs schwieriger geworden. Trotz dieser Herausforderungen setzt sie ihre Arbeit fort und hofft, dass sie auch weiterhin auf finanzielle Unterstützung für ihre Projekte zählen kann. Denn: «Gerade in der derzeitigen Lage ist Hilfe nötiger denn je.»