Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. 1: Sie sind letzte Woche mit einer seltenen unheilbaren Krankheit in Berührung gekommen. Wer von dieser Krankheit angesteckt wird, stirbt innerhalb einer Woche einen schnellen und schmerzlosen Tod. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich angesteckt haben, betrage eins zu tausend. Das bedeutet: Von tausend Personen, die mit dem Virus in Kontakt kommen, steckt sich eine Person an. Wenn die Krankheit ausgebrochen ist, gibt es keine Behandlung, aber sie können sich jetzt noch impfen lassen. Leider gibt es nur eine begrenzte Zahl an Impfungen und diese werden an die Personen gegeben, die am meisten dafür bezahlen. Was sind Sie maximal bereit für diese Impfung zu bezahlen?
2: Die gleiche Situation wie bei Szenario 1 aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich angesteckt haben beträgt vier zu tausend, also vier von tausend stecken sich an. Und: Die Impfung wirkt nur bei jeder vierten Person. Was sind Sie maximal bereit für diese Impfung zu bezahlen?
3: Zu der oben beschriebenen Krankheit wird eine Studie durchgeführt. Dazu werden Freiwillige gesucht, welche sich dem Risiko aussetzen, bei dem Versuch mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu tausend zu sterben. Die zwanzig Freiwilligen, die am wenigsten Geld verlangen, dürfen teilnehmen. Welches ist die tiefste Entschädigung, die sie verlangen würden, um an diesem Experiment teilzunehmen?
Gleiches Risiko ganz unterschiedlich eingeschätzt
Dieses Gedankenexperiment des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Richard H. Thaler von 1983 mag ethische Fragen aufwerfen – interessant sind die Ergebnisse der damaligen Umfrage aber dennoch: Für Szenario 1 lag die mittlere Zahlungsbereitschaft bei 800 Dollar, für Szenario 2 bei 250 Dollar und für Szenario 3 bei 100 000 Dollar. Ich gehe wohl nicht falsch in der Annahme, dass das Muster bei Ihnen ähnlich aussieht, auch wenn, mathematisch gesehen, die drei Risiken gleich hoch sind. Intuitiv schätzen wir das Risiko aber ganz anders ein. Denn je nach Szenario konnten wir im Experiment das Risiko entweder komplett oder nur teilweise eliminieren oder sogar ein neues Risiko erwerben.
«Auch wenn die Risiken gleich hoch sind, intuitiv schätzen wir das Risiko ganz anders ein.»
Dieses Muster der intuitiven Einschätzung von Risiken begegnet uns auch bei Umweltthemen: So ist etwa in der öffentlichen Diskussion das mögliche Restrisiko von 5G deutlich stärker präsent als das unbestrittene Erkrankungsrisiko durch Radon. Radon ist ein natürliches radioaktives Gas, das sich in Innenräumen anreichert. In der Schweiz verursacht Radon, je nach Schätzung, jährlich zwischen 300 und 600 Todesfälle durch Lungenkrebs. Bereits diese Spanne an Unsicherheit – zwischen 300 und 600 – ist grösser als ein eventuelles Risiko durch 5G-Strahlung vernünftigerweise sein könnte. Aber weil wir dem Radonrisiko schon immer ausgesetzt waren und das Gas natürlichen Ursprungs ist, erscheint es deutlich weniger bedrohlich als 5G.
Nullrisiko? Das gibt es nicht
Im Prinzip könnten wir einiges gegen Radon unternehmen, aber ein Null-Risiko ist nicht zu erreichen. Entsprechend dem obigen Szenario 2 ist daher die Bereitschaft für Massnahmen geringer. Anders ist es bei 5G. Das Risiko ist neu und als Gesellschaft selbst gewählt – was dem Szenario 3 entspricht. Und auch wenn das potenzielle Risiko durch 5G aus individueller Sicht klein ist, ist es belastend, dass die Wissenschaft keinen Blankocheck für ein Nullrisiko ausstellen kann – wie in Szenario 1.
«Die Tatsache, dass die Impfung nicht hundert Prozent effektiv ist, senkt die Impfbereitschaft.»
Die gleiche intuitive Risikoeinschätzung ist auch im Zusammenhang mit der Covid-19-Impfung zu beobachten. Für einen Teil der Bevölkerung ist es schwierig zu akzeptieren, sich einem möglichen selbstgewählten Risiko auszusetzen (Szenario 3), wenn die Alternative ist, nichts zu tun, beziehungsweise schlussendlich eine natürliche Infektion zu kriegen. Die Tatsache, dass die Impfung nicht hundert Prozent effektiv ist (Szenario 2), senkt die Impfbereitschaft weiter. Auch wenn also eine gewisse Impfskepsis ganz normal und zu erwarten ist, überrascht es dennoch, wie gross in der Schweiz der Anteil der Personen ist, welche auf eine unbestrittene Verringerung des Krankheitsrisikos mittels einer Covid-19 Impfung verzichtet. Offensichtlich kann diesen Personen der Nutzen einer Impfung im Vergleich zum Risiko der Erkrankung nicht vermittelt werden. Ein Grund dafür dürfte die oben eingeführte intuitive Einschätzung von Risiken sein.
Ein Dashboard, um Risiken zu kommunizieren
Die öffentliche Kommunikation zur Corona-Impfung beruht hauptsächlich auf qualitativen Aussagen. Ich bin aber überzeugt, dass es für einen Teil der Bevölkerung auch Zahlen und Fakten braucht, um die Hürden einer intuitiven Risikoeinschätzung zu überwinden und objektive Risiko-Nutzen Abwägungen zu machen. Ein Dashboard mit den neuesten Fallzahlen genügt dabei nicht. Es wäre ebenso wichtig ein Dashboard mit Daten zum Nutzen der Impfung im Vergleich zum Risiko durch eine Covid-19 Erkrankung für verschiedene Altersgruppen zu ergänzen, und während der Pandemie laufend den neuesten Erkenntnissen und Virusvarianten anzupassen. Das ist wissenschaftlich anspruchsvoll und mit Unsicherheiten behaftet. Aber im Hinblick auf den weiteren Verlauf der Pandemie hoffe ich sehr, dass solche Kommunikationsmassnahmen ausprobiert werden.
«Es wäre wichtig, ein Dashboard mit Daten zum Nutzen der Impfung im Vergleich zum Risiko durch eine Covid-19 Erkrankung zu ergänzen.»
Denn jetzt wo sich die Meinungen zur Impfung verfestigt haben, braucht es neue Ansätze. Das gilt aber nicht nur jetzt, sondern noch viel mehr in einigen Monaten, wenn die Immunität nach der Covid-19-Impfung oder einer durchgemachten Infektion wieder nachlässt. Ansonsten nehmen wir in der Schweiz eine Vielzahl unnötiger Erkrankungen und Langzeitfolgen in Kauf.
Danksagung: von diesem Experiment habe ich von Michael Siegrist, ETH Zürich anlässlich einer 5G Veranstaltung erfahren.
Zum Text
Dieser Text entstand als Kolumne für das Wissen-Magazin higgs.ch. Fünf hochkarätige Forscherinnen und Forscher schreiben im «Klartext» pointiert und faktenbasiert ihre Meinung zu einem selbst gewählten wissenschaftlichen Thema.